Gedenkreden

Gedenkfeier für Herrn Dr. Knut Kühn-Leitz


Redebeitrag Ingolf Hoefer


Sa., den 08.10.2022

Haus Friedwart, Wetzlar

Die Wetzlarer DFG hat mit Dr. Knut Kühn-Leitz ein Mitglied verloren, das schon durch seine Lebensgeschichte immer an den Aktivitäten seiner Mutter im Bereich des Deutsch-Französischen beteiligt oder zumindest dicht dabei war. Niemand konnte wie er die Ziele und Etappen des Versöhnungswerks erläutern. Durch seine Funktion als Direktor der Ernst-Leitz-Stiftung war er auch zum Hausherrn von Haus Friedwart geworden.

Für die Wetzlarer DFG bleibt sein treuer Einsatz für so viele deutsch-französische Zusammenkünfte vor allem bei der Benutzung von Haus Friedwart für kulturelle Veranstaltungen unvergesslich, bei der die eigene Freude am Geschehen aber auch die sichtbare Verantwortlichkeit für das Gelingen sich perfekt ergänzten. Seine kenntnisreiche Mitwirkung an der Erklärung der Geschichte unserer DFG und der Geschichte der Partnerschaftsbewegung, die von Wetzlar aus auf den Weg gebracht werden konnte, waren von hohem Wert.

Für die Wetzlar übersteigende Bewertung seiner Person möchte ich sehr gern wunschgemäß den folgenden Nachruf von Frau Dr. Margarethe Mehdorn, der Präsidentin der Gesamtorganisation VDFG-FAFA für Europa vortragen.


Ansprache zur Enthüllung der Gedenktafel an die Verhaftung von Dr. Elsie Kühn-Leitz


Dr. Oliver Nass, Vorsitzender der Ernst Leitz Stiftung

Mi., den 27.10.2021

Aldfeldsche Haus, Wetzlar

„Ich habe mich vielleicht gegen ein von Menschen aufgestelltes Gesetz vergangen, aber niemals gegen das göttliche Gesetz, denn vor Gott sind alle Menschen gleich, ob Juden, Christen oder Heiden. Das Gesetz der Menschlichkeit hat mich zu diesem Tun veranlasst. Ich habe nichts zu bereuen.“

 

Das waren die Worte von Elsie Kühn-Leitz, meiner Großmutter, am Ende ihres Verhörs in der Wetzlarer Gestapo-Außenstelle hier im Aldefeldschen Haus am 10. September 1943. Der aus Frankfurt dazugekommene Gestapo-Beamte Gabusch entgegnete ihr, dass sie sich wohl darüber klar sei, von diesem Moment an kein freier Mensch mehr zu sein, sondern verhaftet zu werden und sofort nach Frankfurt ins dortige Gestapo-Gefängnis zu kommen.

 

Was für ein Mut, sich noch selbst im Gestapo-Verhör zu seiner Tat und seinen Überzeugungen der Humanität zu bekennen! Wie Herr Richter eingangs erwähnte, verdanken wir es Elsie Kühn-Leitz‘ Aufzeichnungen, die sie nach Ende des Nazi-Regimes zu Papier brachte, dass wir den historischen Verlauf dieser Geschichte, einer Geschichte von Mut und Einstehen für Menschlichkeit in Zeiten des Nazi-Terrors kennen und weitererzählen können. Und daher möchte ich in meinem Beitrag, sehr verehrte Ehrengäste aus dem öffentlichen Leben, der Unternehmen und Vereinigungen sowie der Familie Leitz, vor allem hierauf - und immer wieder auch mit ihren Worten - eingehen.

 

Mit ihrer Aussage zum Ende des Verhörs übernahm meine Großmutter zugleich die alleinige Verantwortung für die versuchte Fluchthilfe für die „Halbjüdin“ Hedwig Palm aus Wetzlar, die von ihr zusammen mit ihrem Vater, Ernst Leitz II, ihrer Tante aus München, Ella Bocks, sowie Julie Gerke, die ein paar Wochen vorher bei der Familie Leitz im Haus Friedwart gewohnt hatte, organsiert wurde. Hedwig Palm und Julie Gerke waren – nach einem mehrwöchigen Unterschlupf in der Wohnung Ella Bocks‘ - am 4. Juli 1943 schon fast an der Schweizer Grenze, vertrauten sich einem Milchmann an, um ihnen den Weg zu zeigen und wurden von eben diesem verraten und an die deutsche Grenzpolizei überführt. Beide wurde verhaftet. Hedwig Palm wurde kurz danach ins Gestapo-Gefängnis nach Frankfurt verlegt und am 11. November 1943 in das Frauenkonzentrationslager Ravensbrück deportiert und von dort ins Lager Uckermark, wo sie kurz vor Kriegsende verstarb.

 

Julie Gerke wurde am 5. August zu acht Wochen Gefängnis verurteilt, dann aber am 3. September von der Gestapo verhört, denen sie die Verantwortlichen für die gescheiterte Fluchthilfe nannte; man habe auf sie eingewirkt. Sie ließ sich zur Gestapo-Informantin anwerben, der sie dann wieder von Wetzlar aus weiter zuarbeitete, immer wieder auch mit Anschuldigungen gegen die Familie Leitz. Julie Gerkes Stellungnahme führte zugleich zur folgenreichen Vorladung meiner Großmutter und ihres Vaters in die Gestapo-Außenstelle im Aldefeldschen Haus. Hierzu schreibt Elsie Kühn-Leitz:

 

„Mein Vater und ich fuhren also an jenem 10. September um 2 Uhr nachmittags mit dem Auto zur Gestapo. Die Gestapo war damals in einem alten Haus, das noch aus der Goethezeit stammt, untergebracht. Dieses Haus liegt gegenüber von unserem Häusertorwerk ganz im Schatten eines Parks, rings von dunklen Bäumen umgeben. Es hatte schon seit meiner Kindheit etwas Bedrückendes und Dunkles für mich an sich, und ich entsinne mich sehr wohl, dass es mich oft in meinen Kinderträumen verfolgte und ich dieses Haus von Jugend an verabscheute. Es hieß das ‚Aldefeld‘sche Haus‘ nach seiner Familie, der es einstmals gehörte. Zunächst wurde mein Vater allein vernommen. An der Vernehmung durfte ich nicht teilnehmen. Nach etwa zwei Stunden des Wartens, die unendlich lang erschienen, kam ich daran. Es waren zwei Wetzlarer und ein Frankfurter Beamter der Gestapo, der Kommissar Gabusch, anwesend. Ich wurde nun zu den Einzelheiten des Falles Palm vernommen und mir wurde klargemacht, dass ich eine Todsünde gegen das Dritte Reich begangen hätte, indem ich eine Jüdin, einen Erzfeind des Führers und des Dritten Reiches, unterstützt hätte.“

 

Nach Kommissars Gabuschs „Urteil“ wurde Elsie Kühn-Leitz vor der Fahrt ins Frankfurter Gefängnis in der Klapperfeldstraße ins Haus Friedwart begleitet, um ein paar Sachen mitnehmen zu können. Ihre damals 4- bis 7-jährigen Kinder, also meine Mutter, mein Onkel und meine Tante, waren gerade im Bad, als sie begleitet von zwei Männern mit langen schwarzen Mänteln eintrat und ihnen verkündete, dass sie „für ein paar Tage nach Frankfurt“ müsse. Die Kinder spürten sofort, daß etwas Schlimmes drohte.

 

Eine Einweisung ins Gestapo-Gefängnis wegen „versuchter Fluchthilfe für eine Jüdin und übertriebener Humanität“, der sie zusätzlich beschuldigte wurde, weil sie sich täglich um das Wohl der Zwangsarbeiterinnen gekümmert hatte, in dem sie z. B. Nahrungsmittel, Medikamente, Bücher oder Spielezug mitbrachte und dort viel Zeit mit den Frauen und Kindern verbrachte, führte nicht „für ein paar Tage“ ins Gefängnis, sondern definitiv dorthin - ohne irgendeinen Prozess und mit hoher Wahrscheinlichkeit von dort zur Deportation ins Konzentrationslager.

 

Im Gefängnis in der Klapperfeldstrasse war auch Hedwig Palm, ohne dass die beiden sich begegnen konnten. Meine Großmutter beschreibt in ihren Aufzeichnungen ausführlich den Alltag unter schwersten Bedingungen: die quälende Ungewissheit, wie es weitergeht, die Angst vor erneuten Verhören, Bestrafungen und schließlich der Deportation, die schlaflosen Nächte mit in Nachbarzellen heulenden oder schreienden Frauen und den nächtlichen Bombenangriffen, während derer alle in ihren Zellen um ihr Leben bangten, die perfiden Schikanen, um die Gefangenen weiter zu entwürdigen, die unendlich erscheinende Einsamkeit, die Momente der Todessehnsucht, aber auch die der Solidarität unter den Gefangenen:

 

„Wenn jemand das Herz auf dem richtigen Fleck hat, so versucht er, den anderen Leidensgenossen bei jeder nur passenden Gelegenheit etwas Trost und kleine Hilfeleistungen zukommen zu lassen, sei es durch ein freundliches Wort, das man den anderen auf dem Gange zuflüstert, durch ein Stück Brot, das man sich gegenseitig verstohlen beim Hinausführen in den Hof schenkt, durch Austausch von Nachrichten, soweit das möglich ist, usw. Es gab einige Frauen, deren Ehemänner in Frankfurt/M. wohnten. Sie kamen dann abends zu einer bestimmten Stunde in die Nähe des Gefängnisses und pfiffen oder sangen ein Lied, bis es die Frauen hörten. Wenn dann gerade kein Aufsichtspersonal in der Nähe war, versuchten die Frauen ihrerseits mit einem Lied, gesungen oder gepfiffen, zu antworten.“

 

Meine Großmutter hätte sicherlich das gleiche Schicksal wie Hedwig Palm ereilt, wäre es ihrem Vater nicht gelungen, sie mithilfe vom Direktor der deutschen Reichsautobahn Willy Hof und gegen Zahlung einer hohen Summe freizubekommen. Ihr Bruder Ludwig Leitz, dessen Sohn, Ernst Michael Leitz, heute auch unter uns ist, hatte hier auch unter Aufnahme nicht unerheblicher Gefahren mitvermittelt. Elsie Kühn-Leitz entkam also dem Todesurteil. Am 28. November 1943 sahen die Kinder ihre abgemagerte, zerzauste Mutter, die gemäß ihres Schwurs, im Falle eines Wunders der Rettung, die Eingangstreppen zum Haus Friedwart nicht hinaufging, sondern kniend hinaufrutschte. Ich weiß von meiner Mutter, wie tief sich dieses Bild ins Gedächtnis für immer eingebrannt hat. Meine Großmutter war dankbar und zugleich vollkommen erschöpft und musste medizinisch behandelt werden. Die Betreuung des Lagers der Zwangsarbeiter wurde ihr untersagt und sie stand bis zu Kriegsende unter fortwährender Beobachtung der Nazis mit regelmäßigen Vorladungen durch die Gestapo. Auch der Gesundheitszustand ihres Vaters hatte mit diesem Erlebnis stark gelitten, so sehr hatte es ihn mitgenommen. Er wurde wenig später dann vor das Parteigericht wegen „Judenbegünstigung“ zitiert.

 

1946 schreibt Elsie Kühn-Leitz ihre Geschichte auf, die sie für den Rest ihres Lebens geprägt hat:

 

„Völlig wird das Vergessen jedoch bei keinem dieser Menschen möglich sein, die in den vergangenen Jahren so viel zu erleiden hatten, denn sie sind alle gestempelt, seelisch und körperlich. Es ist wie ein geistiges Muttermal, das sich während des ganzen späteren Lebens nicht verwischen lässt, genauso wie alle diejenigen den Krieg niemals vergessen werden, die ihn in seiner Grausamkeit und Unerbittlichkeit auskosten mussten.“

 

Die Erfahrung der Inhaftierung war für Elsie Kühn-Leitz zugleich eine lebenslange Motivation, Verfolgten, so auch vielen Familien aus Afrika, und Menschen in Not, gerade auch im Wetzlarer Raum, zu helfen, sich für die Kultur als menschenverbindendes Element, für Völkerverständigung und Frieden in Europa einzusetzen; hierzu zählen ihr Engagement für die deutsch-französische Verständigung oder auch die Wetzlarer Kulturgemeinschaft. Ich freue mich daher besonders über die Präsenz der Vorstände aus der Vereinigung Deutsch-Französischer Gesellschaften für Europa, der Deutsch-Französischen Gesellschaft Wetzlar und der Wetzlarer Kulturgemeinschaft.

 

Die Ernst Leitz Stiftung, dessen Vorsitz ich von meinem Onkel, Knut Kühn-Leitz, nach seinem Tod im letzten Jahr übernommen habe, bemüht sich im Andenken an die Ehrenbürger Ernst Leitz I, Ernst Leitz II und Elsie Kühn-Leitz um den Erhalt des denkmalgeschützten Haus Friedwarts und in der Tradition der Familie um Kultur und Völkerverständigung. Das von Wetzlar Erinnert initiierte Projekt unterstützen wir damit gerne und aus tiefer Überzeugung. Die Gedenktafel, die wir heute hier einweihen, erzählt eine Geschichte von einer Stimme der Menschlichkeit und Widerstand gegen ein Terrorregime, das so viel Unheil auf Deutschland und die Welt gebracht hat. Es ist eine Geschichte, die wir uns immer wieder erzählen sollten, die uns einen Kompass auch für unsere heutige Zeit mit ihren Anzeichen steigendem Extremismus bietet. Geschichte ist nicht abstrakt, sie wird von Menschen gemacht, in einem Spektrum, das von bestialischer Brutalität bis zu selbstloser Humanität reicht. Lassen Sie uns daher auch dank dieser Gedenktafel die Geschichte des Aldefeldschen Hauses und der meiner Großmutter für künftige Generationen weitererzählen. Möge diese Gedenktafel viele Menschen, die sie entdecken und sich vielleicht auch über den QR-Code weiter damit auseinandersetzen, zur Beschäftigung mit unserer Vergangenheit und ihrer Lehren anregen! Mögen wir alle uns davon inspirieren lassen und „Flagge zeigen“, wenn es darauf ankommt, ob im persönlichen Gespräch oder in der Welt der sozialen Medien. In diesem Sinne möchte ich noch einmal Wetzlar Erinnert und insbesondere Herrn Richter, der Stadt Wetzlar, unseren Mitstiftern für die Unterstützung dieses Projektes und Ihnen allen für Ihre Anwesenheit danken.

 

Ich möchte schließen mit den Worten Albert Schweitzers, dem großen Philosophen, Theologen, Organisten und Urwalddoktor, mit dem meine Großmutter eine tiefe Freundschaft verband und der daher auch hier in Wetzlar war:

 

„In keiner Weise dürfen wir uns dazu bewegen lassen, die Stimme der Menschlichkeit in uns zum Schweigen bringen zu wollen. Das Mitfühlen mit allen Geschöpfen ist es, was den Menschen erst wirklich zum Menschen macht".


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